Die Frau im Labyrinth
Es war kurz vor Weihnachten, und sie wollte in die weite Welt fliegen.
Ihre Reise begann mit einem Flug nach London-Heathrow. Dort musste sie umsteigen. Aber ihr Flieger, der sie nach London bringen sollte, war zu spät. Sie tröstete sich: „Dieses Jahr hatte ich schon drei missglückte Reisen. Dies ist nun meine vierte.“ Aller guten Dinge sind drei (und auch aller schlechten) – also musste diese vierte Reise klappen. Da kam ein Mann vom Servicepersonal zu ihr und sagte: Wir werden Sie durchschleusen. Es kommt jemand und hilft Ihnen. Die Frau bedankte sich: „Sie sind mein Engel“. Und schon war sie wieder voller Zuversicht.
In London angekommen, stieg sie aus. Niemand erwartete sie, um sie zu ihrem Gate zu begleiten. Man sagte ihr, der Weg sei kurz, sie würde das schaffen. „Sie müssen zu den B-Gates gehen, einfach die Treppe dort rauf.“ Sie hatte Angst vom Servicepersonal vergessen zu werden. Und so machte sie sich alleine auf den Weg.
Die Treppe führte sie zu einem Schild „Arrivals“. Das war also falsch. Sie ging die Treppe wieder runter und kam in eine leere Halle. Dort entdeckte sie ein Schild mit der Aufschrift „B-Gates“. Ein Zug fuhr ein. Die Türen öffneten sich – aber auf der gegenüberliegenden Seite. Verwirrt klopfte sie an die Scheiben der geschlossenenTüren.
Der Zug fuhr ab. Allmählich füllte sich die Halle mit noch anderen Reisenden. Wieder kam ein Zug. Er kam aus der anderen Richtung. Die Türen öffneten sich. Erleichtert stieg sie ein. Sie fragte einen Mann, wo es zu den B-Gates ginge. Er stieg mit ihr aus und zeigte auf den Fahrstuhl. Er fuhr aufwärts. Sie solle dort den nächsten Zug nehmen, erklärte der Mann und ging weg.
Die alte Frau bekam Angst, sich zu verirren und ihren Anschlussflug zu verpassen. Sie suchte weiter. Ein Zug fuhr ein. Die Türen öffneten sich: auf ihrer Seite. Als der Zug hielt, stieg sie aus. Wie weiter? Sie sah ein Schild: B-Gates. Wieder musste sie mit einem Aufzug fahren – diesmal nach unten.
Sie wurde immer verwirrter und dachte: „Bin ich schon so senil, dass ich mich auf diesem großen Flughafen nicht mehr zurechtfinden kann?
Oder habe ich nur das Gefühl, mich in einem Labyrinth zu befinden?“ Und schon immer hatte sie Angst gehabt, aus einem Labyrinth nicht herauszufinden. Dies war aber nicht das Labyrinth in den Gärten der Welt, auch nicht ein Labyrinth aus Wasser, Wald und Mangroven. Dies ist ein Flughafen-Labyrinth. „Bin ich zu alt und kann ich mich in der modernen Welt nicht mehr zurechtfinden?“ Sie fühlte sich, als wäre sie aus der Welt herausgefallen. Sie dachte: Ja, wenn ich ein Parfum
suchen würde – oder einen neuen Pullover – oder tolle Pralinen – das würde ich alles leicht finden in diesem glitzernden Konsumtempel – diesem Konsum-Labyrinth. Dies aber war doch ein Flughafen. Nur wie das richtige Gate finden?
Sie irrte weiter umher. Irgendwann sah sie die großen Tafeln mit den Gate-Nummern und Abfahrtszeiten. Für ihren Flug sollte sie zu Gate C65 gehen. „Wieso C“, dachte sie, „dies sind doch die B-Gates“. Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen.
Sie ist nie mehr irgendwo angekommen. Sie läuft noch immer in London-Heathrow herum. Der Irrgarten in ihrem Kopf aus Fahrstühlen-T-Shirts-Parfum-B-Gates-Schokolade-Zügen-C-Gates hat sich gelichtet. Inzwischen kennt sie sich gut aus in diesem Flughafen-Labyrinth und hilft allen, die dort umherirren, sich zurechtzufinden. Sie ist der hilfreiche Engel von London-Heathrow.Wenn Sie also dort einmal umsteigen und Hilfe brauchen, erkennen Sie sie: eine alte kleine Frau mit grauen Haaren. Sie trägt einen roten Mantel – wie der Weihnachtsmann.
Gruselig und nah am Leben! – Spielerisch, witzig und tröstend!
Sehr schön, die leichte, wie selbstverständliche Wendung am Ende der Erzählung:
Die komplet verwirrte, erschöpfte, ratlose alte Frau wird zum rettenden Engel für alle Flughafengäste, die in Verwirrung und Ratlosigkeit geraten; die alptraumhaft sich zuspitzende Wirklichkeit wird auf leichte, unmerkliche Weise zum handfesten, erlösenden Traum.
Ein humorvolle, verwirrende und doch in sich schlüssige Vermischung von Fantasie und Wirklichkeit, die dann noch auf flotte Weise und unserer Jahreszeit gemäß, mit dem Weihnachtsmann endet!
Der Flughafen ist so grossartig geschildert, dass ich ihn vor mir sehe, bzw. mich erinnere, so ähnlich länger auch schon auf einem Flughafen oder in einem Einkaufzentrum herumgeirrt zu sein. Die Geschichte ist mit viel Spannung geschrieben, obwohl kaum etwas Spannendes geschieht. Das Lesen hat mich so beeindruckt, dass ich fast ausser Atem kam, weil ich in Gedanken immer schneller lief.